Angehörige, die mit Leere, Schuld und Überforderung kämpfen

Daniel Hofmann
Einrichtungsleiter Markus Rappl bedankte sich bei den Referentinnen Angelika Herrmann (2. von links) und Melanie Thilo (2. von rechts) mit kleinen Geschenken, die überwiegend in der Beschäftigungstherapie des BRK-Hauses am Klosterberg entstanden waren. Rechts: Diplom-Sozialpädagogin Christine Wagner vom Sozialpsychiatrischen Dienst in Cham

Eine psychische Erkrankung nahestehender, geliebter Menschen fordert auch das familiäre Umfeld extrem. Wie sehr, das zeigten die berührenden Erfahrungsberichte von Angelika Herrmann und Melanie Thilo, die bei einem Informationsnachmittag im BRK-Haus am Klosterberg in Cham referierten. Beide rieten ihren Zuhörern, „sich gut um sich selbst zu kümmern, mit ihren eigenen Kräften zu haushalten und immer wieder ihre Ressourcen aufzutanken“.

Von Frank Betthausen

Cham. Melanie Thilo war 13 Jahre alt, da kaufte sie sich ihr erstes Kochbuch. „20-Minuten-Gerichte“ – so lautete der Titel. Nach der Schule ging die Jugendliche jeden Tag in den Supermarkt, deckte sich mit frischen Zutaten ein und fuhr erst dann mit dem Bus nach Hause. 

Dort bereitete sie sich ihr Mittagessen zu. Allein! Nicht, weil sie es unbedingt wollte, sondern weil sie musste. Ihre Mutter, die psychisch krank war und unter starken Stimmungsschwankungen litt, lag häufig im Bett und war zu erschöpft, um für ihre Tochter zu kochen.

Mit Thilo machte das unbemerkt etwas. Die fehlende Fürsorge und das mangelnde Interesse hinterließen Spuren. Die Jugendliche lernte zwar schnell, auf eigenen Beinen zu stehen und einen Weg für sich zu finden. 

Sie erlebte es als Normalität

Aber: Sie spürte oft große Leere und Überforderung – vor allem, wenn es um die Symptome und Verhaltensweisen ihrer Mutter ging, die sie fatalerweise viel zu lang als Normalität erlebte. 

Und nicht nur das! Wie es bei Kindern und Jugendlichen oft vorkommt, entwickelte Thilo Schuldgefühle und bezog fast alles, was im Kontakt mit ihrer Mutter passierte, auf sich. Ihre Strategie, mit all dem umzugehen? Sie flüchtete – in die Welt der Schule, in die Welt der Bücher, ins Lesen…

Heute, als Erwachsene, steht sie „mit vielen Ressourcen fest im Leben“ und ist beruflich erfolgreich. Das, was in ihrer Jugend war, hat sie als „einen Bestandteil ihres Lebens“ angenommen, wie sie ihren Zuhörern im BRK-Haus am Klosterberg in Cham erzählte.

„Bei den Planungen für unser Jubiläum war schnell klar, dass im Programm eine Extraveranstaltung für Angehörige stattfinden soll.“ 

Markus Rappl, Leiter des BRK-Hauses am Klosterberg

Zum 25-jährigen Bestehen der Einrichtung hatten deren Leiter Markus Rappl und sein Team dort einen Informationsnachmittag für Angehörige von psychisch erkrankten Menschen organisiert.

Warum für diese Gruppe? Weil über den Sozialpsychiatrischen Dienst in der Ludwigstraße seit geraumer Zeit die kostenlose Beratung und Unterstützung von betroffenen Familienmitgliedern sichergestellt ist – zusätzlich zur Betreuung von psychischen kranken und belasteten Klienten. 

„Bei den Planungen für unser Jubiläum war schnell klar, dass im Programm eine Extraveranstaltung für Angehörige stattfinden soll“, erläuterte Rappl.

Neben Melanie Thilo als WISE-Fachreferentin – dahinter verbirgt sich ein Projekt des Vereins Seelenerbe, bei dem erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern über ihre sehr persönlichen Erfahrungen berichten – hatten die Organisatoren Angelika Herrmann, die ehemalige 2. Vorsitzende des Landesverbands Bayern der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, in die Kreisstadt eingeladen. 

Tochter war forensische Patientin

Während ihr Vortrag unter dem Motto „Zwischen Verständnis und Überlastung“ stand, war das Referat von Thilo mit dem Titel „Wissen, was hilft“ überschrieben.

Herrmann ist seit 30 Jahren ganz direkt mit dem Thema in Berührung. Ihre Tochter ist psychisch erkrankt und war forensische Patientin. Seit 15 Jahren ist die Mutter ehrenamtlich für Angehörige tätig.

Nach ihren Angaben erfüllt bundesweit mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. „Für die knapp 18 Millionen Betroffenen und ihre Angehörigen ist eine Erkrankung mit massivem Leid verbunden und führt oft zu schwerwiegenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben“, erklärte sie.

 Selbsthilfe und Selbstfürsorge

Was Angehörige besonders plage und beschäftige, seien die emotionale Belastung, Zukunftssorgen und Trauer darüber, wie sich der Lebenslauf ihrer Lieben verändere. 

Dazu kämen die Auswirkungen auf den eigenen Alltag, der Umgang mit der Situation in Familie und Freundeskreis und der Umstand, dass eine Kommunikation mit einst vertrauten Personen oft nicht mehr in der Weise wie vor der Erkrankung möglich sei.

Auf die Frage, was helfen könne, empfahl sie den Anwesenden dringend, mit anderen zu reden, die ähnliches erlebt haben. Die Bereiche Selbsthilfe und Selbstfürsorge seien ebenfalls extrem wichtig.

Christine Wagner
Angelika Herrmann (links) und Melanie Thilo erzählten ihren Zuhörern viel Persönliches aus ihrer Lebens- und Leidensgeschichte – mit dem Ziel, die Situation betroffener Angehöriger öffentlich stärker in den Fokus zu rücken.

„Kümmern sie sich gut um sich selbst, haushalten sie mit ihren eigenen Kräften und tanken sie ihre Ressourcen auf“, riet sie. Bei all dem sei es immer geboten, sich genau über die Erkrankung zu informieren und sich dazu beraten zu lassen.

Als sehr zentral erachtet es Herrmann, niemals die Hoffnung aufzugeben. „Als Angehöriger darf man sich auch nicht völlig zurückziehen – beispielsweise aus Scham oder wegen Schuldgefühlen“, meinte sie. 

„Und: Es ist sehr wohl erlaubt, sich professionelle Hilfe zu holen. Wie oft haben wir das von unseren erkrankten Familienmitgliedern verlangt?“ Der Sozialpsychiatrische Dienst, dessen Experten so gut wie immer Rat wüssten, sei hier eine sehr gute Adresse.

Als geboten betrachtet es die Expertin darüber hinaus, sich nicht mit anderen zu vergleichen. Wer sich sage, dass bei den Nachbarn doch alles gut sei, wisse möglicherweise vieles einfach nicht. Ein abschließender Merksatz Herrmanns lautete: „Kein Erkrankter hat sich die Krankheit ausgesucht.“

„Eine gewisse Distanz“ half ihr

Auf die Frage, was sie für sich persönlich im Kontakt mit ihrer erkrankten Tochter gelernt habe, sprach die Referentin davon, dass es ihr mit der Zeit gelungen sei, sich eine gewisse Distanz zuzulegen. „Helfen sie nur so viel wie nötig und achten sie beidseitig auf Autonomie!“, appellierte sie an die Besucher des Informationsnachmittags. 

Es sei wichtig, Grenzen zu setzen, um sich selbst zu schützen. In der Praxis könne es dabei beispielsweise darum gehen, dass ein Anruf pro Tag möglich sei – dass es aber keinesfalls zehn Telefonate sein dürften.

Melanie Thilo hatte für die Chamer ebenfalls wertvolle Empfehlungen – speziell für den Umgang mit erkrankten Eltern. „Was mir geholfen hat, war, es zu akzeptieren. Zu verzeihen!“ Das müsse aber auf individuelle Art und Weise geschehen – dann, wenn jemand so weit sei. „Das ist ein Prozess“, sagte sie und sah sehr wohl auch in der Trauer einen wertvollen Weg.

„Sich vom Wunschbild der Mutter oder der Familie zu verabschieden, kann helfen.“ 

Referentin Melanie Thilo

Sich vom Wunschbild der Mutter oder der Familie zu verabschieden, könne helfen, meinte die junge Frau, die das Projekt WISE überzeugt unterstützt, weil sie sich als Betroffene nicht länger verstecken und die Angehörigen mehr in die Öffentlichkeit bringen wolle.

Wie Angelika Herrmann erachtete Thilo „positive Beziehungserfahrungen“ als essenziell. „Menschen lernen am besten von Menschen. Daraus lassen sich Hoffnung und Zuversicht ziehen“, sagte sie. Aktiv ins Handeln zu kommen und nicht in der eigenen schwierigen Situation zu verharren, fördere die Selbstwirksamkeit und das Selbstwertgefühl.

Das „Konzept der Schuld“

„Suchen und entdecken sie ihre Ressourcen! Befreien sie sich und schürfen sie aus ihrer inneren Kraft! Lassen sie los und finden sie ihren eigenen Weg!“, legte sie den Teilnehmern der Runde ans Herz. 

Problematisch sei dagegen das „Konzept der Schuld“. Denn: Schuld blicke in die Vergangenheit – in und auf etwas, das abgeschlossen und unveränderlich sei. 

Im Anschluss an die Referate standen die Referentinnen für Fragen und Anmerkungen, die anonym auf Kärtchen geschrieben werden konnten, zur Verfügung. 

Markus Rappl bedankte sich bei den beiden Damen mit kleinen Geschenken, die überwiegend in der Beschäftigungstherapie des BRK-Hauses am Klosterberg entstanden waren.